Smarte Medizintechnik

Smarte Medizintechnik
Blauer Himmel, strahlender Sonnenschein, kristallklare Luft: Es ist ein Wintertag, wie man sich ihn vorstellt – sofern man auf Schnee verzichten kann. Während viele Leipzigerinnen und Leipziger das Wetter auf ihren Wegen durch die Stadt sichtlich genießen, bangen in genau diesem Moment andernorts Menschen um ihre Gesundheit oder die ihrer Lieben. Einen entscheidenden Anteil zur Genesung leisten Krankenhäuser, auch wenn diese selten das sind, was man als Sehnsuchtsort bezeichnen würde.
Für viele Betroffene ist das Zentrum zur Erforschung der Stütz- und Bewegungsorgane (ZESBO) aber genau das. Denn im Forschungslabor der Klinik und Poliklinik für Orthopädie, Unfallchirurgie und Plastische Chirurgie an der Universität Leipzig widmet sich das Team um Dr. rer. med. Stefan Schleifenbaum den besonders komplexen Fällen.
Wer auf medizinische Versorgung angewiesen ist, erwartet zu Recht nur das Beste. Besonders dann, wenn es sich nicht nur um kleine Wehwehchen handelt, sondern zum Beispiel der Stützaparat betroffen ist. Dass das kein Einzelfall ist, zeigt ein Blick in die Statistik. In Deutschland erkranken pro Jahr etwa 180.000 Menschen an einem Bandscheibenvorfall, der damit zu einer der häufigsten Rückenerkrankungen in Deutschland zählt. Zudem sind so genannte muskuloskelettale Erkrankungen die häufigste Ursache von chronischem Schmerz und körperlichen Funktionseinschränkungen. Auf seine Wirbelsäule und Gelenke zu achten, sollte daher selbstverständlich sein. Schließlich sind sie es, die Bewegungen überhaupt erst möglich machen. Dass das im Alltag nicht immer der erste Gedanke ist, ist kein Geheimnis. Mit Sätzen wie „Sitz gerade!“, „Heb nicht so schwere Sachen!“ oder „Mach nicht so einen Buckel!“ kann man zumindest versuchen, ihn wieder ins Gedächtnis zu rufen.
Interdisziplinäre Zusammenarbeit für Smart Health
Mit einer gesunden Lebensweise sowie ausreichender und regelmäßiger Bewegung lässt sich schon viel erreichen. Am ZESBO landen jedoch regelmäßig Fälle, bei denen präventive Maßnahmen keine Abhilfe hätten schaffen können. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn Verformungen der Wirbelsäule genetische Ursachen haben und sich bereits im Mutterleib ausbilden. Diese Fälle sind zwar zum Glück selten, für die Betroffenen jedoch äußerst belastend. Starke Fehlstellungen operativ zu korrigieren, ist auch für erfahrene Mediziner:innen eine Herausforderung. Insofern ist eine akkurate Vorbereitung unerlässlich und kann Dank modernster Technik auf Spitzenniveau stattfinden. Ob und wie sich auch smarte Materialien nutzen lassen, ist einer der Forschungsgegenstände am ZESBO. In einer Kooperation zwischen der Universität Leipzig und dem Fraunhofer-Institut für Werkzeugmaschinen und Umformtechnik (IWU) verbinden sich hier Kompetenzen unterschiedlichster Fachrichtungen. Folglich arbeiten neben Medizinern auch Ingenieure daran, Betroffenen erstklassige Lösungen anbieten zu können.
Man könnte sich für das Geld auch ein schönes Häuschen kaufen.
Florian Metzner, M.Sc.
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am ZESBO



Mit Hightech der Natur auf der Spur
Zum Einsatz kommen dabei modernste Technologien wie der 3D-Druck. „Man könnte sich für das Geld auch ein schönes Häuschen kaufen,“ ordnet Florian Metzner die Kosten für die neueste technische Errungenschaft im ZESBO ein. Die Besonderheit dieses 3D-Druckers ist es, Materialien mit verschiedenen Festigkeiten drucken zu können. So ist es beispielsweise möglich, ein exaktes Abbild einer Wirbelsäule zu erstellen, die zuvor per Computertomographie (CT) oder Magnetresonanztomographie (MRT) aufgenommen wurde. Die Zusammensetzung des Druckmaterials lässt sich dabei so anpassen, dass Knochen und Weichteile wie Bandscheiben entsprechend ihrer natürlichen Festigkeit gedruckt werden. Medizinerinnen und Mediziner erhalten so ein detailgetreues Modell, mit dem sich Operationen im Vorfeld planen und sogar „üben“ lassen. Wie Florian Metzner und Dr. Stefan Schleifenbaum am Beispiel einer stark deformierten Wirbelsäule erklären, eignen sich die 3D-Modelle auch zu Schulungszwecken. Zum einen, weil damit auch extrem seltene Deformationen vielfach reproduziert und Ärztinnen und Ärzten zugänglich gemacht werden können. Zum anderen, weil die 3D-gedruckten Objekte fast die gleichen Eigenschaften aufweisen, wie ihre biologischen Vorbilder, obwohl es sich dabei vereinfacht gesagt nur um Harz in unterschiedlichen Härten handelt. Doch wird zum Beispiel ein 3D-gedruckter Knochen mitsamt des ihn umgebenden – ebenfalls gedruckten – Gewebes geröntgt, lässt sich auf den Bildern kaum ein Unterschied zum Original erkennen.
So stabil wie nötig, so flexibel wie möglich
Da operative Eingriffe am Stütz- und Bewegungsapparat immer mit Risiken verbunden sind, werden diese vorab akribisch geplant. Auch hier ist das ZESBO immer wieder aufs Neue gefragt – und gefordert, wie Dr. Schleifenbaum an einem Wirbel zeigt. Zur Stabilisierung von Wirbelsäulen werden regelmäßig so genannte Pedikelschrauben eingebracht, bei denen die exakte Position über Wohl und Wehe des Patienten oder der Patientin entscheidet. Dafür werden individuelle Schablonen angefertigt, die dann im OP-Saal zur Anwendung kommen. „Neben der Positionen der Schrauben ist aber auch die Reihenfolge entscheidend, mit denen sie eingesetzt werden. In einem Fall haben wir hier am ZESBO herausgefunden, dass die Fehlstellung des Patienten eine Abweichung von den Herstellervorgaben erfordert. Wäre dies erst während der OP aufgefallen, hätte das dramatische Folgen haben können,“ so Dr. Schleifenbaum.



Ungeachtet dessen stellen Implantate für den Körper immer auch eine Belastung dar. Für Mediziner:innen ist es stets eine Gratwanderung, das richtige Maß aus Fixierung und Flexibilität zu finden. Moderne Schrauben-Stab-Systeme sorgen daher nicht nur für eine Stabilisierung, sondern ermöglichen es den Patient:innen, die Wirbel in gewissem Umfang zu bewegen und zu belasten. Letzteres ist besonders wichtig, da eine zu geringe Belastung des Knochens zu dessen Abbau führen kann. In der Folge können sich Schrauben lockern, was nicht nur schmerzhaft, sondern auch dem eigentlichen Ziel der Genesung abträglich ist. Ein vielversprechender Ansatz sind Pedikelschrauben mit den Eigenschaften von Formgedächtnismaterialien. Bei diesem Prinzip sorgt ein unterdrücktes Formgedächtnis für einen festen Sitz und damit für eine höhere Primärstabilität, da die Formänderung durch die Körperwärme aktiviert und durch das umgebende Gewebe behindert wird. Erste Versuche dazu gab es bereits vor gut zehn Jahren, und noch heute wird auch am ZESBO an der Markteinführung gearbeitet. Dass bis zur medizinischen Zulassung zahlreiche Tests notwendig sind, liegt in der Natur der Sache.
Forschung auf höchstem Niveau
Sprichwörtlich auf Herz und Nieren geprüft wird in der Leipziger Semmelweisstraße beinahe alles, was Menschen beweglich macht. Ein „Knie-Simulator“ beispielsweise beugt und streckt unermüdlich ein künstliches Gelenk, zahlreiche Sensoren messen selbst kleinste Belastungen. Nur einige Schritte weiter werden in einem Prüfstand in einen Wirbel eingesetzte Pedikelschrauben untersucht. Der gesamte Versuchsaufbau wird mit einer Kamera überwacht und ist in blaues Licht getaucht. Davon jedoch ist auf dem Monitor nichts mehr zu sehen, wohl aber viele Messpunkte. „Das blaue Licht sorgt dafür, dass ungewünschte Reflexionen vermieden werden – und die Kamera besser sehen kann,“ erklärt Dr. Schleifenbaum. „Die Punkte, die wir sehen, sind Referenzpunkte, mit denen wir kleinste Bewegungen erkennen können.“ Dass sie in ihrer Anordnung keinem symmetrischen Muster folgen, ist durchaus beabsichtigt. Denn so lässt sich das zufällige Verwechseln von Messpunkten vermeiden.



Knochen und Gelenke aus dem 3D-Drucker
Ob Wirbel, Unterschenkel oder Kniescheiben – ein Großteil der bei unserem Besuch getesteten Präparate stammt aus dem 3D-Drucker. „Wir können auf den Einsatz von biologischem Material aber nicht komplett verzichten,“ schildert Dr. Schleifenbaum. Besonders deutlich wird das beim direkten Vergleich eines natürlich gewachsenen und eines maschinell gefertigten Knochens. Mögen sie sich rein äußerlich kaum unterscheiden, ist ihr Aufbau doch grundverschieden. Während sich die Stabilität des natürlichen Knochens trotz und wegen der scheinbar chaotischen Anordnung von Gewebe und Zwischenräumen ergibt, ist im Druckexemplar alles klar geordnet aufgebaut. Zwar kennt und nutzt auch die Natur Hexagone, nicht aber zum Aufbau von Knochen. Florian Metzner erklärt, warum das für die Arbeit im ZESBO relevant ist: „Insofern besteht ein Teil unserer Arbeit auch darin, die natürlichen Muster möglichst gut nachzubilden. Da aber jeder Mensch individuell ist und es damit unendlich viele Varianten gibt, wie ein Knochen zu seiner Stabilität gelangt, ist das eine Herkulesaufgabe. Eine hexagonale Anordnung der inneren Struktur ist zwar einfach zu drucken und macht ein Bauteil stabil, aber es bildet die Realität eben nur sehr bedingt ab. Deshalb suchen wir nach Wegen, den natürlichen Aufbau so weit wie möglich nachzuempfinden. Schließlich wollen wir die Verbindung zwischen Knochen und Implantat möglichst stabil und vor allem langlebig gestalten.“
Zusammenarbeit für weniger Risiken und Nebenwirkungen
Spätestens damit wird klar, warum das Leipziger Forschungslabor neben der Expertise von Mediziner:innen auch auf das Know-how von Ingenieuren setzt. Denn um erstklassige medizinische Lösungen anbieten zu können, bedarf es der Kompetenz vieler Disziplinen, die nahtlos zusammenarbeiten. Das Team um Dr. Stefan Schleifenbaum ist sich dieser Verantwortung bewusst: „Niemand ist gerne Patient im Krankenhaus. Wir wissen das und arbeiten daran, dass operative Eingriffe am Bewegungsapparat möglichst komplikationslos verlaufen und auf ein Minimum reduziert werden können.“ Dass ihnen irgendwann die Fälle ausgehen könnten, ist eher unwahrscheinlich. Schließlich hat ein erwachsener Mensch mehr als 200 Gelenke und 206 bis 212 reguläre Knochen. Derzeit laufen am ZESBO rund ein Dutzend Projekte, die von KI-basierter Diagnostik bis hin zur Entwicklung eines Exoskelettes zur Steigerung der Ergonomie im Operationssaal reichen. Während sich einige Vorhaben noch in einem frühen Stadium befinden, stehen andere bereits kurz vor der praktischen Erprobung. Was sie eint: die Suche nach Wegen, medizinische Eingriffe präziser und die damit verbundenen Risiken so kalkulierbarer zu machen.

Dr. rer. med. Stefan Schleifenbaum
- Technischer Leiter Zentrum zur Erforschung der Stütz- und Bewegungsorgane (ZESBO)
Redaktion

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