
Vom Werkstoff zur Anwendung
Bei der Entwicklung von Anwendungen auf Basis von Formgedächtnislegierungen (FGL) gingen in der Vergangenheit Werkstoff- und Anwendungsentwicklung immer Hand in Hand. Sowohl die Verbesserung der Werkstoffeigenschaften als auch das bessere Verständnis entscheidender Aspekte führten zu neuen Anwendungen. Dieser Artikel soll einen historischen Abriss über die bisher entwickelten Systeme und die damit verbundenen Probleme, Fallstricke und Besonderheiten geben.
Die Entdeckung haben wir einem Zufall zu verdanken

Die Entdeckung des Formgedächtniseffektes von NiTi-Legierungen geht bereits auf das Ende der 1950er Jahre zurück. Die Geschichte dieser Entdeckung ist insbesondere deshalb so interessant, da der „größte Erfinder aller Zeiten – der Zufall“ (Mark Twain) hier sogar zweimal zu Hilfe kam. Ein junger Forscher namens William J. Bühler wurde beauftragt für eine militärischen Rakete eine Spitze herzustellen, die besonderen Herausforderungen wie Hitze, Ermüdung und Aufprallkraft standhalten konnte. Die erste Zufallsentdeckung ereignete sich, nachdem Bühler herausgefunden hatte, dass eine 1:1-Legierung aus Nickel und Titan für diese Aufgabe geeignet war. Ein Bündel gegossener NiTi Stäbe fiel ihm auf den Boden und er bemerkte, dass die noch nicht vollständig erkalteten Stangen ein deutlich höheres, weniger gedämpftes Geräusch abgaben als die kalten Stangen. Hierdurch wurde zunächst offenbar, dass die Temperatur und eine damit verbundene Phasenumwandlung, die Steifigkeit und Dämpfung des Materials scheinbar stark beeinflussten.
Ein weiteres Mal kam der Zufall zu Hilfe, als er 1961 bei einem Treffen der Laborleitung ein Muster aus NiTi vorstellte. Das wie ein Akkordeon gefaltete Blech wurde herumgereicht, von den Teilnehmern hinsichtlich der mechanischen Eigenschaften untersucht und dabei auch verbogen. Einer der Teilnehmer, ein Pfeifenraucher, erhitzte die Probe mit seinem Feuerzeug, und zur Überraschung aller zog sich der ziehharmonikaförmige Streifen zusammen und nahm seine vorherige Form wieder an. Im Jahr 1963 stieß Frederick E. Wang zum Team von Bühler und es gelang ihm in der Folgezeit die werkstofftechnischen Grundlagen und schlussendlich die Kristallstruktur von Nitinol wissenschaftlich zu beschreiben. 1967 fand schließlich die erste wissenschaftliche Konferenz zum Thema NiTi-Formgedächtnislegierungen statt.
Nachdem die werkstofftechnischen Grundlagen gelegt waren, erfolgten die ersten Entwicklungen von Produkten auf Basis von FGL. Erste kommerzielle Anwendungen konzentrierten sich auf den militärischen Bereich. 1969 wurde von der Raychem Corporation eine Hydraulikkupplung (sog. Cryofit Connector) entwickelt, die erstmals in F-14-Kampfjets eingesetzt wurde.
Die Kupplung wird zunächst für das Einführen einer Hydraulikleitung bei Temperaturen weit unter 0°C aufgeweitet und anschließend bei ca. -70°C gelagert. Zur Montage wird die Kupplung über die beiden zu verbindenden Rohre geschoben. Die durch die Umgebungstemperatur hervorgerufene Phasenumwandlung lässt die Kupplung aufschrumpfen. Hierdurch kann eine dauerhafte Verbindung mit bis zu 350 bar Druck sichergestellt werden. Ähnliche Ansätze wurden in den darauffolgenden Jahren bei der Entwicklung verschiedener elektrischer und mechanischer Verbindungselemente genutzt.
Die 1980er Jahre bringen zyklische Anwendungen
Allen FGL-Anwendungen der ersten Generation in den 1970er Jahren ist gemein, dass der Formgedächtniseffekt immer nur einmal genutzt wurde, da die FGL-Halbzeuge noch nicht für den zyklischen Betrieb geeignet waren. Dies änderte sich Anfang der 80er Jahre. Ein besseres Verständnis der Herstellungsprozesse – sowohl bzgl. der Erschmelzung als auch der Halbzeugherstellung und Nachbehandlung – ermöglichten neue Anwendungen.

Insbesondere im Bereich Medizintechnik hat die Entwicklung superelastischer rohrförmiger Halbzeuge zur Herstellung von Stents geführt und damit der Formgedächtnistechnik erheblichen Vorschub geleistet. Im Bereich der Haushaltswaren, z.B. in Kaffeemaschinen oder Verbrüh-Schutz-Armaturen aber auch im Automotive Sektor als Bypassventile in Ölkreisläufen, hat Know-how zur FGL-Federherstellung für neue Produkte gesorgt. Die zweite Generation der FGL-Anwendungen im Aktorikbereich ist im Wesentlichen durch den zyklischen Betrieb der Systeme gekennzeichnet.
Die Temperatur steigt mit den 90ern
Die FGL-Entwicklungen in den 90-Jahren waren durch große Fortschritte in der Werkstofftechnik geprägt. So entstanden z.B. die ersten NiTiCu-Halbzeuge aber auch FGL-Drähte mit sehr hohen Umwandlungstemperaturen und vor Allem hoher zyklischer Stabilität. Darüber hinaus wurde mit der Entwicklung erster FGL-Modelle mit der Finite-Elemente-Methode der Grundstein für die Entwicklung mehrachsig belasteter Komponenten gelegt. In der Konsequenz führten diese Fortschritte in der Werkstofftechnik insbesondere zur Verfügbarkeit qualitativ hochwertiger FGL-Drahthalbzeuge kleiner Durchmesser und Anfang der 2000er Jahre zur Entwicklung der ersten Produkte mit elektrisch aktivierten FGL-Drähten. Als ein Meilenstein kann hierbei die Insulinpumpe Omnipod der Firma Insulet genannt werden. In dieser werden zwei gegeneinander arbeitende FGL-Drähte wechselseitig aktiviert und so zur bedarfsgerechten Dosierung des Insulins genutzt.
Die 2000er – Machen Sie es sich bequem


Eine weitere, eher ungewöhnliche FGL-Anwendung im Bereich der Spielwaren wurde 2003 vorgestellt. In der Puppe „Baby Bright Eyes“ wurde die Bewegung der Augen mit elektrisch aktivierten FGL-Drähten realisiert. Ein Vorteil von FGL-Draht-Aktoren – die sehr langsame und natürliche Bewegungserzeugung – wurde hier zum Nachteil. So stellte sich erst nach der Markteinführung heraus, dass ausgerechnet die hohe Realitätsnähe bei Kindern Angst auslöste. Schließlich wurde die Produktion der Puppe bereits nach wenigen Monaten wieder eingestellt.
Das Wissen über die Auslegung und die elektrische Ansteuerung solcher Systeme führte im Nachhinein jedoch zur bis dato erfolgreichsten FGL-Anwendung im Automotive-Bereich. Die Firma Actuator Solutions vermarktete ab 2005 mit großem Erfolg ein FGL-betriebenes Pneumatikventil für Sitzkomfortsysteme. Derartige Ventile werden genutzt, um in Fahrzeugsitzen Luftblasen zu befüllen oder zu entlüften. Hierdurch kann die Sitzgeometrie statisch z.B. im Lordosebereich, aber auch dynamisch, wie z.B. in Massagesystemen eingestellt werden. Der Markterfolg stellte sich in dieser Anwendung besonders dadurch ein, dass verschiedene Vorteile von FGL wie z.B. der geräuschlose Betrieb, das geringe Gewicht aber auch der einfachere und kostengünstigere Aufbau, in einem Produkt vereint wurden. Bis heute wurden mehr als 120 Millionen dieser Ventile hergestellt und die Produktion dauert an. Mit diesem Knowhow konnte auch eine erste Anwendung im Bereich Optik – Autofokus Systeme für Drohnenkameras – entwickelt werden.
FGL 4.0 – Einzug ins Smartphone
Während die FGL-Anwendungen der dritten Generation in hohem Maße auf qualitativ hochwertigen und gut steuerbaren FGL-Drahthalbzeugen beruhten, zeigt sich in den Entwicklungen der 4. Generation, dass in den Bereichen zyklische Stabilität von FGL-Aktoren, Miniaturisierung und Regelung weitere Potentiale gehoben werden konnten. Neben der Entwicklung neuer Verfahren zur Herstellung hochreiner Schmelzen ist dies auch auf die Fortschritte im Bereich der Halbzeugherstellung mit der Verfügbarkeit sehr dünner Drähte oder Folien mit reproduzierbarer Qualität zurückzuführen.

Eine wegweisende Anwendung der vierten Generation stellen hierbei die Autofokus- (AF) und Bildstabilisierungssysteme (engl. Optical Image Stabilisation – OIS) der Firma Cambridge Mechatronics (CML) dar. Mit Hilfe von insgesamt acht, nur 25µm dicken und wenige Millimeter langen FGL-Drähten in einer parallelkinematischen Anordnung kann die Linse von Smartphone Kameras mit Frequenzen von bis zu 20 Hz in allen Freiheitsgraden feinpositioniert werden. Hierdurch ist es möglich, Schwingungen der Hand aktiv zu kompensieren und auch bei schlechten Lichtverhältnissen sehr scharfe Bilder oder Videos aufzunehmen.
Die Markteinführung solcher Systeme erfolgte bereits 2015, damals jedoch aufgrund der zu hohen Kosten mit einem vergleichsweise geringen Marktanteil. Dies änderte sich mit der Einführung des 8-Wire SMA AF+OIS-Systems durch CML 2023. Eine Veröffentlichung von Oktober 2024 belegt eine bisher produzierte Stückzahl von 80 Millionen. Im Vergleich zu den im Februar veröffentlichten Zahlen entspricht das einem Produktionsvolumen von beinahe 4 Millionen Stück pro Monat. Darüber hinaus wurden mit dieser Anwendung auch im Bereich der Regelungstechnik enorme Fortschritte erzielt. Erstmals wurden die sensorischen Eigenschaften von FGL konsequent zur Positionsregelung genutzt, da in derart kleinen Bauräumen für Sensoren schlichtweg kein Platz ist. Ein automatisierungsgerechtes Design und die Entwicklung eines speziell für diese Anwendung entwickelten Ansteuerschaltkreises haben außerdem die Systemkosten derart reduziert, dass der Markterfolg schlussendlich möglich wurde.

Die ersten kommerziellen Anwendungen auf Basis von FGL-Dünnschichten etablierten sich gegen Ende der 2020er Jahre. Hierbei sind insbesondere die Aktivitäten der Firma memetis im Bereich Mikrofluidik hervorzuheben. Mit Hilfe von aus FGL-Bändern hergestellten Strukturen war es erstmals möglich sehr kleine Aktoren für Ventile herzustellen.
Was die 5. Generation bringen wird
Zusammenfassend zeigt die wechselvolle Geschichte von FGL-Anwendungen, dass mit Erreichen bestimmter Meilensteine in der Werkstofftechnik immer neue Produkte entwickelt und vermarktet werden konnten. Derzeitige Fortschritte im Bereich der Hochtemperaturlegierungen oder der mit Hilfe von KI optimierten Entwicklung von ternären oder quaternären Legierungen lassen vermuten, dass sich diese Entwicklung fortsetzen wird. Insbesondere im Automotive-Bereich ist zu erwarten, dass zukünftig FGL-Aktoren der 5. Generation Einsatztemperaturbereiche ermöglichen, welche derzeit noch nicht realistisch erscheinen. Zusätzliche Entwicklungen in den Bereichen automatisierte Prozessketten, Qualitätskontrolle, Miniaturisierung und MEMS-Integration sowie der Textil- und Kunststoffintegration werden die produktionstechnische Grundlage für die fünfte Generation von FGL-Anwendungen bereiten.
Bildquellen:
Abbildung 1: KAUFFMAN, G.B., MAYO, I. The Story of Nitinol: The Serendipitous Discovery of the Memory Metal and Its Applications. Chem. Educator 2, 1–21 (1997). https://doi.org/10.1007/s00897970111a
Abbildung 2: https://www.intrinsicdevices.com/history.html , abgerufen am 11.04.2025
Abbildung 3: Michael Weißflog, smarthoch3
Abbildung 4: https://www.forbes.com/2003/02/12/cx_ah_0212tentech.html, abgerufen am 11.04.2025
Abbildung 5: https://www.actuatorsolutions.de/products/pneumatics-and-fluidics/, abgerufen am, 11.04.2025
Abbildung 6: https://www.cambridgemechatronics.com/en/news/resources-blogs/sma-lens-shift-afois-how-cml-integrates-af-and-ois/, abgerufen am 11.04.2025
Abbildung 7: memetis GmbH, Foto: Sascha Linke

Dr.-Ing. Kenny Pagel
- Head of Shape Memory Technology Department, Fraunhofer IWU Dresden
Editorial team
